Meditation in Schwarz-Weiss

In ihren Händen entstehen im Nu filigrane Kunstwerke aus Papier. Jolanda Brändle hat ihre Berufung nebenbei entdeckt. Heute ist sie eine der erfolgreichsten Scherenschnittkünstlerinnen der Ostschweiz.

Schaut man Jolanda Brändle über die Schulter, kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus. Mit einer simplen, kleinen Schere vermag sie haarfeine Strukturen aus dem Papier auszuschneiden. Und das in einem atemberaubenden Tempo. Kleinste, spitze Winkel fordern besondere Geduld: «Rupfen darfst du nicht, sonst sieht man dann feine Papierfaserzipfel. Ich schiebe das Papier sanft in die Klingen», erklärt sie.

Stundenlang mit der Schere hantieren, immer leicht vornübergebeugt? Das stellt man sich anstrengend und etwas verkrampft vor. Doch Jolanda widerspricht: «Für mich ist das eine meditative Arbeit», sagt sie, «sie gibt mir Energie. Am liebsten schaue ich dazu einen Film. Aber er darf nicht zu dramatisch sein, so eine mittelmässige Komödie ist ideal», ergänzt sie schmunzelnd. «Schneiden tue ich am liebsten nach 20 Uhr, wenn es ruhig wird im Haus. Bis zu vier Stunden am Stück kann ich problemlos arbeiten». Dafür sei das spezielle Scherenschnittpapier auch auf einer Seite weiss beschichtet. Würde man immer aufs Schwarze blicken, würden die Augen zu rasch ermüden, erklärt sie.

Erholung vom Alltag

Und so hatte auch vor 22 Jahren ihre Scherenschnitt-Karriere angefangen: Auf der Suche nach etwas Erholung vom anstrengenden Alltag als Bäuerin und Mutter von neun Kindern entdeckte sie zufällig den Scherenschnitt. Sehr ruhige Hände braucht es, viel Geduld und die Gabe, die Welt als Silhouette wahrzunehmen. «Am Anfang sagte ich mir: nur keine Kühe!», erinnert sie sich lachend. Und das, obwohl sie zusammen mit ihrem Mann einen Milchbetrieb führt. «Aber nur Muster machen will ich nicht, es muss etwas Lebendiges drin haben», fügt sie an.

Ihre Scherenschnitte gleichen manchmal Wimmelbildern, manchmal Ornamenten. Neben den traditionellen Motiven rund ums Landleben finden sich immer wieder kleine, überraschende Details. Mal ist es ein Geissbock, der scheinbar auf den Hinterhufen tanzt, mal ein Mountainbiker, die hinter dem Bauernhaus den Hang hoch strampelt.

Das Projekt in Kürze

  • Scherenschnitt-Atelier
  • Kauf Verkaufslokal
  • Mosnang/SG

Kunst zum Kaufen

Schon bald war sie über das Anfängerstadium hinaus und verkaufte erste Werke. 2010 eröffnet sie ihren ersten, kleinen Laden. Neben dem Verkauf der Originalwerke begann sie, Stoffe, Tassen, T-Shirts und vieles mehr mit ihren Motiven zu bedrucken. Schnell wurden die Organisatoren der Olma, der grössten Landwirtschaftsmesse der Schweiz, auf ihr Schaffen aufmerksam. 2012 durfte Jolanda das Plakat für die Messe gestalten. Ab dann gingen die Verkäufe durch die Decke. Sehr bald war der Laden viel zu klein.

Vor etwa vier Jahren verlangte einer ihrer Verpächter Land zurück und Brändles mussten deshalb den Viehbestand verkleinern. Da entschieden sie sich, die «Schererei» zu vergrössern und zum zweiten Standbein der Familie zu machen. Doch dafür brauchte es ein neues Lokal, denn das bestehende war rach viel zu klein geworden. Mitten im Dorf wurden Brändles fündig: Das altehrwürde Gasthaus «Bären» stand zum Verkauf. Mit Unterstützung der Schweizer Berghilfe und tatkräftiger Mithilfe einiger Kinder konnte das Ehepaar das Haus zu einem Laden und Wohnhaus umbauen. Seit September 2020 hat der neue Laden an vier statt wie bisher zwei Tagen offen. «Am schönsten ist, dass ich jetzt im Laden arbeiten kann, das war vorher wegen der engen Platzverhältnisse nicht möglich», sagt sie.

Doch wer jetzt denkt, die quirlige 50-Jährige sei mit ihrem Laden, der Familie und dem Bauernbetrieb ausgelastet, irrt. Denn regelmässig joggt sie – oder spult auf dem Rennvelo Kilometer ab. Und so steht sie oft früh am Morgen auf, dreht ihre Runde und setzt sich dann an einen Scherenschnitt. Zuerst bewegen und dann schneiden: «Das ist das Schönste». Sagts und hat dabei dem Papier schon das nächste Geisslein entlockt.

schererei.ch

Text: Alexandra Rozkosny

Bilder: Yannick Andrea

Pubblicato a giugno 2021

Die Unterstützung

Die Bauernfamilie Brändle in Mosnang beschloss, mehr auf die Scherenschnittkunst von Jolanda zu setzen. Dafür brauchte sie ein grösseres Verkaufslokal. Die Schweizer Berghilfe hat sie beim Kauf unterstützt.
L’Aiuto svizzero alla montagna fornisce un sostegno finanziario quando i fondi non sono sufficienti per realizzare un progetto lungimirante.