Der Mann mit der Fliege

Eigentlich ist Renato Vitalini Hotelier. Sogar schon in der dritten Generation. Doch sein Herz schlägt für etwas anderes: das Fliegenfischen. In seiner Werkstatt in Scuol produziert er heute handgemachte Fliegenruten für Kunden aus der ganzen Welt. Und hat so sein Hobby zum Beruf gemacht.

Man muss den Kopf einziehen, wenn man die Werkstatt von Renato Vitalini betritt. Der kleine Eingang des traditionellen Engadinerhauses mitten in Scuol ist das Tor zur Welt des Fliegenfischens. Zu der Welt, wo die handgemachten Fliegenruten entstehen und von Scuol aus an die Kundschaft in der ganzen Welt geliefert werden. Hier fühlt sich Renato wohl: «Wenn ich in meiner Werkstatt bin, kann ich voll und ganz in meine Welt abtauchen. Da erschrecke ich manchmal, wenn der Pöstler plötzlich im Raum steht», lacht Renato. Mit seinem Betrieb «V-Stick Custom Flyrods» hat sich der Scuoler einen lang ersehnten Traum erfüllt. In seiner Werkstatt stellt er aus hochwertigen Materialien Ruten und Köder fürs Fliegenfischen her, alles Unikate und zugeschnitten auf die Bedürfnisse seiner Kunden. Das Handwerk dafür hat er selbst erlernt. «Das habe ich mir alles autodidaktisch beigebracht. Mit viel Geduld und vielen Misserfolgen. Aber ich habe sehr viel Kreativität und Arbeit reingesteckt», sagt Renato. Jetzt sei er glücklich, dürfe er endlich den Beruf ausüben, den er liebt. Das war nicht immer so.

Wenn die Passion zum Beruf wird

Renato ist in Scuol geboren und aufgewachsen. Nach seinem Abschluss der Mittelschule am Hochalpinen Institut in Ftan im Unterengadin lernte er seine Frau Michaela kennen. Kurze Zeit später zog es die beiden in die grosse Stadt: «Wir lebten einige Jahre in Zürich. Haben Musik gemacht, als DJs aufgelegt, das Leben genossen und einfach die Sau rausgelassen», erzählt Renato. Nach sieben Jahren hatten sie genug vom Stadtleben und wollten wieder zurück in die Berge. Damals führte Renatos Mutter das Hotel «Curuna» in Scuol. So kam es, dass Renato und Michaela 2005 zurück ins Unterengadin kamen, im Hotel einstiegen und den Betrieb 2019 ganz übernahmen. Parallel zum Hotelbetrieb hat Renato 2015 sein Geschäft mit dem Fliegenfischen gestartet. Nebst der Herstellung von handgemachten Ruten und Ködern bot Renato auch immer mehr geführte Tageskurse an. Für ihn war schnell klar, dass er das Fliegenfischen nicht mehr nur als Hobby ausüben will. «Eintönigkeit ist für mich der Horrer. Das Fischen und die Arbeit in der Werkstatt gibt mir die Abwechslung und die Ruhephasen, die ich brauche», sagt Renato. Heute geht es ihm nicht mehr darum, wie viele Fische er fängt. Sobald er am Fluss steht, seine Rute zusammensteckt und zu fischen beginnt, ist sein Kopf leer: «Ob ich mit oder ohne Fisch nach Hause gehe, spielt für mich keine Rolle. Das Fischen gibt mir Ruhe, versetzt mich in einen meditativen Zustand.», erzählt Renato. Mit der Corona-Pandemie hat er sich dazu entschieden, voll auf sein Geschäft mit dem Fliegenfischen zu setzen. Heute ist er sich sicher: «Es war die beste Entscheidung». Michaela kümmert sich heute um das Hotel, Renato kann sich voll auf das Geschäft mit dem Fliegenfischen konzentrieren. «Das war der Moment, in dem ich mein Hobby zum Beruf machen konnte. Ab dann hatte ich nie mehr das Gefühl, dass ich arbeiten muss», sagt Renato.

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«Früher war ich ein Pulverfass»

Renato hat das Fischen als Kind von seinem Vater gelernt. Seit bald zwanzig Jahren fischt er nur noch mit der Fliegenrute. «Mein Vater brachte mir als Kind das Fischen bei. Ich ihm später das Fliegenfischen», sagt Renato. Das Fischen mit der Fliege ist eine Passion, die ihn seither nicht mehr losgelassen hat. Man lerne immer wieder Neues dazu: «Du musst dich mit der Umgebung auseinandersetzten, mit dem Material, mit dem Wetter. Das macht das Fliegenfischen so einzigartig für mich». Am liebsten fischt Renato in seiner Heimat im Unterengadin, aber er braucht auch immer wieder mal einen Tapetenwechsel: «Ich verreise gerne, und auch weit. Aber ich freue mich immer brutal, wenn ich in meine Heimat zurückkomme», sagt Renato. Durch die Fischerei und seine Familie hat Renato zur Ruhe gefunden. «Früher war ich ein Pulverfass, fast schon stressabhängig. Heute bin ich viel geduldiger geworden und kann mich selber viel besser reflektieren», sagt er. Im Hotel ist Renato nicht mehr oft anzutreffen. «Heute ist das Hotel für mich ein Lebensunterhalt, ich identifiziere mich nicht mehr mit der Person als Hotelier».

Das Geschäft mit dem Fliegenfischen ist eine saisonale Angelegenheit. In den Monaten Juni bis August ist für ihn Hauptsaison, dann ist er fast jeden Tag mit Kunden am «Guiden». Die restlichen Monate verbringt er in seiner Werkstatt. An dem Ort, wo er in seine Welt abtauchen kann und immer wieder erschreckt, wenn der Pöstler plötzlich im Raum steht.

Text und Bilder: Lukas Ziegler

Pubblicato a settembre 2022

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Renato Vitalini fertigt seine handgemachten Fliegenruten in seiner Werkstatt in Scuol an. Zusätzlich bietet er auch geführte Tagestouren an, für Anfänger und Profis.
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