Bald klappert es wieder in Evolène
Marie Métrailler wäre stolz, könnte sie erleben, wie ihre 1938 erbaute Weberei renoviert wird. Schon bald sollen ihre stillgelegten Webstühle wieder zum Leben erweckt werden.
Marie Métrailler wäre stolz, könnte sie erleben, wie ihre 1938 erbaute Weberei renoviert wird. Schon bald sollen ihre stillgelegten Webstühle wieder zum Leben erweckt werden.
Die im Herzen des Dorfes Évolène im Val d’Hérens gelegene Weberei schloss ihre Tore Ende der 1990er-Jahre. Knapp 30 Jahre später taten sich mehrere Frauen aus der Region zusammen. Ihr Ziel: Das geschichtsträchtige Atelier aus dem Dornröschenschlaf wecken und die Webereitradition wiederbeleben. So gründeten sie 2017 die «Fondation Marie Métrailler». Der Name ist eine Hommage an Marie Métrailler, die charismatische Gründerin und langjährige Betreiberin der Handweberei.
Die 1979 verstorbene Marie Métrailler war eine bemerkenswerte Persönlichkeit und weitsichtige Unternehmerin. Einen Teil ihrer Arbeit gab sie anderen Frauen im Tal weiter. Über 250 von ihnen konnten so ein Zusatzeinkommen erwirtschaften und gleichzeitig ihre soziale Stellung verbessern. In den Augen von Marie Métrailler wurde eine Frau, die nicht arbeitete, nicht respektiert. Denise Métrailler war sich lange nicht bewusst, welch grosse Bedeutung ihre Grosstante für die Region hatte. Sie erinnert sich jedoch an einen Ratschlag, den sie den Frauen gab: «Denkt auch an euch, sonst endet ihr verbittert.» Erst viel später, als ihr eine jung verwitwete Frau erzählte, wie sie dank der Heimarbeit ihre fünf Kinder ernähren und aufziehen konnte, wurde Denise klar, wie stark sich das Engagement ihrer Grosstante auf das Leben der Frauen im Tal ausgewirkt hat.
Marie Métrailler war eine aussergewöhnliche Persönlichkeit. Feministin der ersten Stunde, unabhängig, rebellisch. Sie war eine Schlüsselfigur für Evolène und die ganze Westschweiz, die in mehreren literarischen und filmischen Beiträgen gewürdigt wurde. Zum Beispiel in einem Schwarzweissfilm des Vereins «Plans Fixes», der hier zu sehen ist, oder dem Werk «La poudre de sourire» von Marie-Magdeleine Brumagne.
Die Werkstatt von Marie Métrailler liegt seit der Schliessung im Dornröschenschlaft. In 250 verstaubten Kartons warten Woll-, Hanf- und Baumwollgarne darauf, gewebt zu werden. Denise Métrailler hat sich mit Leib und Seele dem Projekt verschrieben. Sie hat Unterstützungsgesuche an die Gemeinde, den Kanton und zahlreiche Stiftungen mit Bezug zum Handwerk gerichtet, daneben ein Crowdfunding aufgebaut und unablässig nach Spendern und Gönnern gesucht. Ihr Engagement wurde belohnt. Bis auf einen Restbetrag konnten die Mittel für den Erwerb des Ateliers und die Renovation aufgebracht werden. Diesen erhält die Fondation Marie Métrailler von der Schweizer Berghilfe. Pierre Praz, der das Projekt als ehrenamtlicher Experte geprüft hat, ist begeistert: «Diese Werkstatt knüpft an eine langjährige Tradition an und schafft Wertschöpfung, zum Beispiel in Form neuer Arbeitsplätze im Tal.» Auch nach der Renovierung wird die Weberei Besucherinnen und Besuchern offenstehen. Die Bauarbeiten sind derzeit voll im Gang und werden voraussichtlich im Sommer abgeschlossen. Danach sollen vier der fünf restaurierten Webstühle in Betrieb genommen werden.
2019 hat die Stiftung in Zusammenarbeit mit Romantiss’, dem Westschweizer Verband der Weberinnen und Weber sowie der Textilkunstschule Filambule in Lausanne eine Webereiausbildung gestartet. Drei Weberinnen stehen am Ende ihrer Ausbildung. Eine von ihnen arbeitete zuvor in der Tourismusbranche und organisierte in der Vergangenheit auch Führungen im Atelier von Marie Métrailler. Aus dem ersten Kontakt mit dem Webereihandwerk entwickelte sich der Traum, einmal selbst hinter einem Handwebstuhl zu sitzen und das Schiffchen durch die Kettfäden zu schiessen. Als die Frau eines Tages in den sozialen Medien auf einen Beitrag der Stiftung stiess, in dem Personen gesucht wurden, die sich für eine Webereiausbildung interessieren, konnte sie ihr Glück kaum fassen. Ihre Ausbildung ist bald beendet und der Traum ist Wirklichkeit geworden. Die junge Mutter schätzt die Flexibilität, die ihr diese Aktivität bietet, und sie liebt das kreative Arbeiten mit Garnen, Farben und Mustern.
Die Stiftung hat viel investiert und kann die Eröffnung des renovierten Ateliers und die Aufnahme der Produktion kaum erwarten. Das gilt auch für eine gewisse Marie Métrailler, die auf der Mitgliederliste auftaucht. Kein Gespenst aus der Vergangenheit, sondern eine Ur-Ur-Grossnichte von Marie Métrailler, die von La Chaux-de-Fonds aus mitgeholfen hat, den Businessplan der Stiftung zu erstellen. Auch heute sind es vor allem Frauen, welche die Zukunft der Werkstatt gestalten. So zum Beispiel die Innenarchitektin Jacqueline Fivaz, die das Renovations- und Umbauprojekt entwickelt hat und koordiniert.
Und was wird künftig auf den alten Handwebstühlen gefertigt? Was planen Denise und Jacqueline? «Im Moment gibt es keine fixe Produktionsplanung. Wir werden sicher Tischläufer, Tischsets und Zierdecken weben und natürlich auch auf spezielle Kundenwünsche eingehen. Wir denken da an den Möbelbereich, Vorhänge, Tagesdecken oder Kissen für Privathaushalte, Hotels oder Geschäfte», erklären die Frauen.
Die Weberinnen in Ausbildung arbeiten bereits intensiv an unterschiedlichen Kreationen. Rohmaterial ist genügend da in den Schachteln aus dem letzten Jahrhundert. Das Interview mit Marie Métraillers Nichte neigt sich dem Ende zu, als ihr Handy klingelt. Zwei junge Frauen wollen mehr über die Ausbildung zur Weberin erfahren. Das Weben im Val d’Hérens hat wieder eine Zukunft!